Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
1. Mose 4, 4b-5
Einerseits
Ach, der Neid! Diese edle Regung des Herzens, die uns das Beste im Anderen sehen lässt – und es ihm dann herzlich missgönnt. Wer sagt, dass Neid eine Todsünde ist? Vielleicht war das ja nur eine Auszeichnung mit himmlischem Unterton. Denn wer beneidet wird, hat’s schließlich geschafft.
Schon Kain wusste, wie sehr der Erfolg des Bruders ans Gemüt geht. Ein besseres Opfer? Ein gnädiger Blick von oben? Unzumutbar! Und so wurde der erste neidische Blick direkt zur ersten handfesten Eskalation. Eine uralte Tradition war geboren: Wenn der andere glänzt, hilft nur noch Schatten werfen.
Denn, Hand aufs Herz: Was wäre das Leben ohne Neid? Ohne dieses herrliche Gefühl, dass jemand etwas hat, das uns fehlt? Neid ist der inoffizielle Orden für besondere Leistungen im Sichtfeld anderer. Wer beneidet wird, darf sich sicher sein: Du hast etwas, das andere wollen – oder zumindest glauben zu wollen.
Darum lasst uns heute nicht klagen über den Neid – lasst uns ihn feiern. Denn in einer Welt voller Gleichgültigkeit ist es doch schön zu wissen: Du bist nicht egal. Du wirst beneidet. Gratuliere!
Andererseits
Natürlich ist es leicht, über die anderen zu spotten – über die Erfolgreichen, die Schöneren. „Neid ist die höchste Auszeichnung“, sagt man, als würde das den bitteren Beigeschmack im eigenen Herzen versüßen.
Doch was, wenn ich der Neidende bin?
Was, wenn ich nicht beneidet werde, sondern mit zusammengebissenen Zähnen zusehe, wie jemand anderes die Anerkennung bekommt, den Applaus, das scheinbar leichtere Leben? Dann ist Neid plötzlich nicht mehr witzig. Dann sticht er. Still. Giftig. Und sehr persönlich.
Ein ruhiges Herz ist das Leben des Leibes; aber Eifersucht ist Knochenfraß
Sprüche 14,30
Der Neid ist nicht nur eine Auszeichnung für die anderen – er ist auch eine Prüfung für mich.
Aber vielleicht liegt genau da ein kleines Wunder verborgen: Wenn ich merke, dass ich beneide, erkenne ich, was mir wirklich wichtig ist. Neid zeigt mir, wonach mein Herz verlangt – nicht besonders edel, aber sehr menschlich. Doch darin liegt die Chance: Nicht der oder die andere muss sich ändern. Ich darf hinschauen. Und wachsen. Wer das erkennt, ist vielleicht schon einen Schritt weiter als Kain.
Herzlichst,
Ihr Pfr. Rudolf Waron
Bildquellen:
- Statue des Kain (Henri Vidal; Ausschnitt): Joe de Sousa