Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.
Johannes 9, 39 (LUT)
Korrupte Politiker, gierige Manager, die dumme Blondine – wir wissen, was es heißt, Menschen auf ein bestimmtes Bild festzulegen. Vor allem in dieser Zeit, wo die Meinungen zur Pandemie-Bewältigung sich in Lagerbildungen zu verfestigen droht.
Festgesetzte Bilder: Das fängt schon in der Familie, wenn immer schon alle wissen, wer nur wieder was angestellt hat. Das setzt sich in der Schule fort, wenn die Rollen des Störenfrieds, des Klassenclowns und der Streber über Jahre fest verteilt sind.
Nach so viel Einübung und Gewöhnung ist es dann gar nicht verwunderlich, wenn es im Leben zwischen „denen da oben und denen da unten“ so weitergeht.
Doch können Bilder auch hilfreich sein. Ich möchte mir doch nicht von jedem ins Herz und in die Karten schauen lassen. Die Bilder von anderen und von uns selbst helfen uns, einander zu erkennen, aber sie verhindern auch, vom anderen mehr als das zu erkennen, was gerade zu sehen sein soll.
Am meisten gilt das für die Bilder, die ich mir von mir selbst mache; von dem/der, auf den/die ich stolz bin, und einmal von dem/der, der/die ich nicht sein möchte. Aber es sind gerade diese Bilder, die mich daran hindern, zu dem zu stehen, was ich wirklich denke und fühle.
Was diese Bilder ausblenden, das sind meine blinden Flecken. Wir haben keine fleckenfreie Rundumsicht.
Wenn ich mit einer Nachbarin oder einem Arbeitskollegen eine Geschichte von Enttäuschungen und Verletzungen durchgemacht habe, habe ich dann überhaupt noch die Kraft oder die Lust, diese Person nicht ein und für allemal abzuhaken?
Ich denke, entscheidend ist, wie wir mit unseren blinden Flecken umgehen. Wenn ich sie einsehe, wird das mein Verhalten verändern. Ich werde mich umsichtiger verhalten. Ich werde nicht vollkommen davon überrascht sein, dass Gott mit oder ohne meine Erlaubnis in meinem Leben anwesend ist.
Die Hoffnung des Evangeliums ist, dass wir unsere Blindheit anerkennen, dass wir mit unseren blinden Flecken rechnen und uns liebevoller gegenüber unseren Nächsten verhalten. Eben nicht von vornherein alles besser zu wissen oder den oder die andere auf ihre Fehler fest zu nageln.
Die Einsicht, dass wir alle blinde Flecken haben, soll uns nicht runterziehen oder klein machen. Nein, sie befreit uns von Rechthaberei und Kälte. Und vielleicht schaffen wir es auch, die Lager in dieser Zeit zu überwinden.
Herzlichst
Ihr/Dein Pfr. Rudolf Waron